Deutschland

Nordrhein-Westfalen: Massiver Schüler-Protest gegen Mathe-Bürokratie

In Nordrhein-Westfalen regt sich gewaltiger Protest von Schülern gegen die Aufgaben beim Mathematik-Abitur: Die Aufgaben seien praktisch nicht lösbar gewesen, viele Lehrer räumten ein, Schwierigkeiten bei der verständlichen Formulierung der Aufgaben gehabt zu haben.
24.04.2013 01:09
Lesezeit: 5 min

Über die Facebook-Seite „Protest gegen Mathe Abiturklausur ‘13“ haben sich tausende Schüler in Nordrhein-Westfalen organisiert, um sich gegen die am 17. April geschriebene Mathe-Abi-Prüfung zur Wehr zu setzen. Die Schülergruppe mit dem Namen „faires Abitur – Schüler kämpfen für ein faires Abitur 2013 in NRW“ kritisiert die Abi-Prüfung in den Grund- und Leistungskursen in Mathematik als „eklatante Verletzung der Chancengleichheit“. Aus diesem Grund organisierten sich die Schüler über Facebook und trafen sich am Dienstag zu einer Demonstration vor dem zuständigen Schulministerium in Düsseldorf.

Eine Petition bei Change.org haben bereits über 7.000 Leute unterzeichnet.

In einem Brief an das Bildungsministerium NRW formulieren die Schüler ihren Protest:

Empfänger:

Bildungsministerium NRW

Die allgemeine Hochschulreife bescheinigt eine uneingeschränkte Studienbefähigung, damit ist sie die Grundlage für ein Studium und allgemein betrachtet für die gesamte Zukunft eines Schülers. Durch die hohe Wertung der Abiturklausuren muss sich ein Schüler darauf verlassen können faire Klausuren gestellt zu bekommen, schließlich können Abweichungen dem Schüler bereits Zukunftswege verbauen beispielsweise durch den bei immer mehr Studiengängen gegebenen Numerus clausus.Die diesjährigen Klausuren im Fach Mathe lösten bei vielen Schülern Kopfzerbrechen aus, einige kämpften gar mit den Tränen, die Gründe dafür sind schnell auszumachen: Die Aufgabenstellungen waren teilweise verwirrend und zudem vom Schwierigkeitsgrad deutlich über dem Niveau der letzten Jahre. Doch woran soll sich ein Schüler orientieren, wenn nicht an den Aufgaben und dem Niveau der Vorjahre? Was hilft einem Schüler das gelernte Wissen, wenn er dieses nicht anwenden kann, da er durch eine verwirrende Aufgabenstellung gar nicht erst versteht, was von ihm verlangt wird? Wir sehen hier den Zweck des Zentralabiturs, einen einheitlichen Bildungsstand zu schaffen nicht mehr erfüllt!

Die Problematik wurde von etlichen Schülern sowie auch Lehrern festgestellt, was davon zeugt, dass es sich nicht um Einzelfälle oder ausschließlich um Ansichten von direkt Betroffenen handelt. Zum gleichen Urteil kam auch der Landesvorsitzende des Philologenverbandes, Peter Silbernagel, er beklagte zudem, dass einige Lehrer bereits bei der Auswahl der Aufgaben Probleme hatten, eine für die Schüler möglichst unkompliziert zu lösende Aufgabenkonstellation zu finden.

Gerade der Doppeljahrgang und insbesondere G8 wurde die letzten Jahre als Versuchskaninchen missbraucht angefangen bei einer APO-GOST (Verordnung über den Bildungsgang und die Abiturprüfung in der gymnasialen Oberstufe), die die Lehrer den Schülern nicht vermitteln konnten, da sie häufig bereits von den Lehrern nicht verstanden wurde, bis hin zu Stundenplänen, die Schülern kaum noch Freiraum für Freizeit und soziale Kontakte ließen. Da sollte man doch meinen, zumindest die Abiturprüfungen könnten reibungslos gestaltet werden!

In einer ersten Stellungnahme hieß es von Ihnen, solch Diskussionen um die Mathematikklausur gäbe es jedes Jahr, doch es ist in keinem anderen Bundesland der Fall! Dementsprechend ist zu überdenken, welche Gründe dies haben könnte. Auch hieß es von Ihrer Seite: „Die Klausuren sind korrekt, und nur darum geht es.“! Dies ist so nicht hinzunehmen, denn die Lösbarkeit der Aufgaben steht nicht zur Debatte, sondern vielmehr die geschilderten Umstände.

Daher fordern wir von Ihnen eine ausführliche schriftliche Stellungnahme zu den Klausuren, die auf die kritisierten Punkte eingeht! Um ein faires Abitur zu gewährleisten, sollten die Aufgaben zudem von einer unabhängigen Kommission geprüft werden. Sollte diese zum Entschluss kommen, die Klausur habe einen verhältnismäßig hohen Schwierigkeitsgrad oder sie sei zu komplex formuliert, ist über eine freiwillige Nachschrift oder eine Lockerung in der Punktevergabe nachzudenken!

Das Problem hinter den Protesten ist offenkundig die zunehmende Bürokratisierung des Abiturs und eine unübersehbare Ideologisierung auch des Mathe-Unterrichts.

Peter Silbernagel, selbst Mathe-Lehrer und Vorsitzender des Philologenverbands Nordrhein-Westfalen, beschriebt die Lage im DLF:

Biesler (DLF): Warum eigentlich gibt es diese anhaltenden Probleme mit dem Mathematikabitur in Nordrhein-Westfalen? Wer stellt die Aufgaben eigentlich zusammen?

Silbernagel: Also, die Aufgaben werden zusammengestellt von einer Kommission, die wiederum das, was aus Schulen beispielsweise an Vorarbeit geliefert wird, sichtet, noch mal komplettiert, noch mal verändert. Und dann gibt es auch eine Kommission oder eine Gruppe von Praktikern, die die Aufgaben durchrechnen auf Lösbarkeit und auf Korrektheit noch einmal überprüfen.

Biesler: Jetzt hatten wir in der Vergangenheit gelegentlich Probleme - woran liegt das denn?

Silbernagel: Ja, wir hatten eigentlich seit 2008 in jedem Jahr Probleme im Zentralabitur Mathematik Nordrhein-Westfalen. Das ist sehr unglücklich für dieses Fach, das ist aber noch viel dramatischer und katastrophaler für die Betroffenen. Es liegt daran wohl, weil es schwierig ist, im Fach Mathematik einzuschätzen, welchen Schwierigkeitsgrad können die Schülerinnen und Schüler als angemessen empfinden. Wo können wir im Zeitlichen die vernünftigen Maßstäbe hernehmen? Und vielleicht liegt es auch ein bisschen an der Tendenz, im Fach Mathematik jetzt krampfhaft und vielleicht auch etwas künstlich einen Lebensbezug herzustellen und damit in der Aufgabenstellung, in der Aufgabenbeschreibung manchmal größere Verkomplizierungen noch hineinzubringen.

Biesler: Sie sind ja nun auch selber Mathematiklehrer. Warum ist das denn in der Mathematik so schwierig? Und ist es für Sie als Lehrer vor Ihren Schülern auch schwierig, oder ist das nur schwierig, wenn man das so abstrahiert, sozusagen auf die Ebene des landesweiten Zentralabiturs geht?

Silbernagel: Also, ich denke schon, dass das Letztere eine besondere Herausforderung darstellt. Es mag in sprachlichen Fächern vielleicht einfacher sein, die Lektüre ist vielleicht hier gleichermaßen von vielen zu nutzen. Aber Mathematik ist nun auch ein Fach, was sich für viele Schülerinnen und Schüler, insgesamt für viele Menschen, sage ich mal, nur sehr schwer erschließt. Dennoch darf es nicht sein, dass wir in jedem Jahr Stress mit dem Fach Mathematik haben. Wir beschädigen nicht nur das Fach Mathematik, sondern wir verändern vielleicht auch mittelfristig das Schülerwahlverhalten. Wir wollen ja Schüler animieren, Mathematik und Naturwissenschaften zu wählen, auch mit Blick auf Berufswünsche später einmal. Wenn sich aber herumspricht und jedes Jahr das deutlich wird, alles ist kalkulierbar, nur das Fach Mathematik nicht, dann hat das Auswirkungen auf das Schülerwahlverhalten.

Mittlerweile hat die Facebook-Seite über 10.000 Mitglieder. Zahlreiche Schüler hatten sich für die Demonstration angemeldet. „Wir haben damit gerechnet, dass ungefähr 800 Schüler erscheinen werden. Vor Ort hatten wir jedoch den Eindruck, dass weitaus mehr Schüler gekommen sind“, sagte Felix Blumentritt den Deutschen Wirtschafts Nachrichten.

„Die Demonstration ist nach unserer Auffassung äußerst erfolgreich verlaufen“. Sie hatten neben der Demonstration ihres Protestes gehofft, die zuständige Ministerin Löhrmann vor Ort anzutreffen und ihre schriftlich ausformulierten Forderungen zu überreichen. Diese sei jedoch nicht anwesend gewesen. „Ein Team aus drei Vertretern wurde jedoch nach einer Stunde Demonstration ins Ministerium gebeten um direkte Gespräche mit Staatssekretär Ludwig Hecke zu führen“, erklärte Blumentritt weiter.

Das Ministerium wolle jetzt die Aufgaben fachlich und juristisch prüfen lassen und den Schülern mitteilen ob sie nachschreiben dürfen oder nicht. „Wir begrüßen, dass das Ministerium mit Schülervertretern geredet hat und sich der Problematik annimmt.“ Man hoffe nun, dass das Ministerium zu einer schnellen Entscheidung bezüglich eines möglichen Nachschreibetermins kommt. „Das ist enorm wichtig damit wir Schüler uns richtig auf die Nachschreibeklausuren vorbereiten können“, so Blumentritt.

Vielleicht sollte man im NRW-Schulssytem und in anderen Bundesländern einmal darüber bedenken, dass es eine Verpflichtung des Staates gegenüber seiner Jugend gibt: Diejenige, die den Leistungskurs Mathe wählen, sind in der Regel nicht die, die sich über den Weg des geringsten Widerstands durch das Abi schummeln wollen. Die Hauptforderung der Jugendlichen nach der Möglichkeit zum Nachschreiben zeigt, dass es den Schülern nicht um ein Happening geht, sondern um die Grundlagen für ihr Leben.

Mangelnde Transparenz, unnötige Zentralisierung und vor allem die Einführung von Ideologie in die Naturwissenschaften sind Systemfehler, die nichts mit gesundem Wettbewerb zu tun haben.

Wer Mathe zum unberechenbaren Angst-Fach macht, braucht sich nicht wundern, wenn die jungen Leute am Ende nur noch Kulturwissenschaften studieren wollen, für die Ingenieur-Berufe jedoch die Fachkräfte aus Indien eingefolgen werden müssen (mehr dazu hier).

 

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