Die Bilder vom brutalen Polizei-Einsatz am Taksim-Platz, die die Protestbewegung #occupygezi im Internet veröffentlicht hat, werden den türkischen Premier Recep Tayyip Erdoğan nicht so schnell verlassen. Der Einsatz wird von allen neutralen Beobachtern als unverhältnismäßig bezeichnet. Erdoğan hat zunächst mit einem Rückzug reagiert und angekündigt, dass das umstrittene Einkaufszentrum nicht gebaut werden soll (hier).
Am Samstagabend zeigte Erdoğan jedoch deutliche Zeichen von Realitätsverlust: Er sagte bei einer Rede an seine Anhänger, dass die Demonstranten eine Minderheit seien. Erdoğan sagte, dass seine Anhänger stärker seien als die Demonstranten. Er warnte seine Gegner, sich nicht mit ihm anzulegen: „Wenn ihr 200.000 Leute versammeln könnt, dann kann ich eine Million versammeln.“ Die Polizei werde immer am Taksim-Platz bleiben, denn der Platz sei „kein Platz, an dem Extremisten randalieren dürfen“.
So spricht kein demokratischer Politiker, so spricht ein Autokrat: Die Ankündigung, gegen hunderttausende Türken eine Million eigener Anhänger mobilisieren zu können, klingt wie die Ausrufung des Bürgerkriegs.
Tatsächlich sind Erdoğans starke Sprüche eher Ausdruck der Schwäche. Der Premier muss demnächst abtreten, weil er nicht mehr für eine weitere Amtsperiode kandidieren kann. Er möchte danach Präsident werden, also dem Modell des russischen Premiers Wladimir Putin nacheifern.
Erdoğans größer Widersacher, der amtierende Präsident Abdullah Gül, zeigte mehr Verständnis für die Demonstranten und sagte, die Polizei solle sich zurückhalten; die Demonstranten forderte Gül auf, sich „reif“ zu benehmen.
Erdoğan hat Druck von mehreren Seiten. Seine Partei, die regierende AKP, ist gespalten: Es gibt die Erdoğan-Fans, die der Premier in einflussreiche Positionen gebracht hat und die mit seinem Abgang etwas zu verlieren haben. Es gibt aber auch den starken islamischen Flügel des Predigers Fetullah Gülen, der sich von Erdoğan entfernt hat und die Politik des Premiers nicht mehr unterstützt.
Hinzu kommt die starke Gruppe der Kemalisten, die Erdoğan stets gehasst hat – vor allem wegen seiner vielen Wahlerfolge, aber auch, weil ihrer Meinung nach Erdoğan eine autoritäre Agenda verfolge. Das Militär wurde gesäubert – wir immer mit dem Vorwurf, es plane einen Putsch gegen den Regierungschef. Die Kurden halten im Moment still, wobei niemand weiß, wie lange der informelle Waffenstillstand mit der PKK dauert. Die Gesprächsangebote an den inhaftierten PKK-Chef Özalan wollen die Kurden zumindest nutzen, um ihren Führer aus dem Gefängnis zu holen. Ob sie danach tatsächlich für einen Frieden und nicht bloß einen taktischen Waffenstillstand eintreten werden, kann heute niemand sagen.
Die türkische Wirtschaft ist überhitzt: Zahlreiche Blasen drohen, vor allem im Immobilien-Sektor. Die türkische Lira wird fortlaufend abgewertet. Zwar hat die Türkei wegen der jungen Bevölkerung immer noch viel bessere Wachstumsraten als andere Volkswirtschaften.
Aber die Türken sind vor allem im Handel tätig. In der Produktion, etwa im Textilbereich, weichen türkische Unternehmen längst auf billigere Arbeitsmärkte in Asien und Afrika aus. Daher sind die Job-Chancen für junge Türken längst nicht mehr so prickelnd wie vor einigen Jahren.
Sollte sich wirtschaftliche Lage in Europa und in Asien weiter verschlechtern, dürfte die türkische Wirtschaft sehr schnell unmittelbar betroffen sein.
Erdoğan selbst verbringt seine dritte Amtszeit damit, sich in seiner Popularität zu sonnen und seltsame gesellschaftliche Veränderungen vornehmen zu wollen: Sein jüngster Vorschlag, den Ausschank von Alkohol in den Stadtzentren zu beschränken, hat großen Unmut bei der nicht-muslimischen Bevölkerung hervorgerufen.
Am gefährlichsten ist für Erdoğan die Zusammensetzung der Demonstranten: Es sind nicht mehr die linken und militant kemalistischen Gruppen, die gegen den Premier aufbegehren, sondern ganz normale Bürger – junge wie alte, Frauen, Männer, Akademiker, Arbeiter, Studenten.
Die Leute spüren, dass die Demokratie in der Türkei mitnichten gefestigt ist. Politische Intrigen, Machtkämpfe und Korruption beschäftigen die Erdoğan-Eliten mehr als die Arbeit, um das Land nachhaltig demokratisch und wirtschaftlich zu stabilisieren.
Die jüngsten Ausschreitungen sind daher nicht mit dem arabischen Frühling zu vergleichen, weil die Demonstranten keine religiösen, sondern zivile Interessen durchsetzen wollen. Sie artikulieren ein tiefes Unbehagen mit dem Regime und verlangen viel gravierendere Veränderungen als jene, die Erdoğan umzusetzen noch die Kraft hat.
Von einem EU-Beitritt hat sich die Türkei in ihrer derzeitigen Verfassung deutlich entfernt. Menschenrechte, Pressefreiheit und Bürgerrechte sind ständigen Aushöhlungs-Bestrebungen unterworfen, wie etwa die groteske Verurteilung des weltberühmten Pianisten Fazil Say zeigt. Say wurde wegen einiger ironischer Tweets verurteilt, weil ihm die religiösen Fundamentalisten Gotteslästerung vorgeworfen hatten (hier).
Die Türkei steht am Rande eines Bürgerkriegs und läuft Gefahr, dass sie statt eines stabilisierenden Faktors in der Region zu einem ähnlich zerrissenen Staat wird wie das benachbarte Syrien.
Dies ist für den Westen ein riesiges Problem. Als Nato-Staat sehen vor allem die Amerikaner Erdoğan immer noch als einen verlässlichen Verbündeten im unübersichtlichen Nah-Ost-Krisen-Rodeo.
Die gewalttätigen Bilder von den Ausschreitungen werden die Stellung Erdoğans nicht festigen.
Mit Tränengas und Wasserwerfern gegen die eigene Bevölkerung wird die Türkei immer mehr zu einem unsicheren Kantonisten in einer ohnehin schon höchst explosiven Region.