Der Taifun Wipha hat die Hilflosigkeit von Betreiber Tepco und japanischen Behörden gezeigt: Radioaktives Wasser musste in den Pazifik abgelassen werden. Wegen weiterer Sturmwarnungen scheint es unmöglich, die Brennelemente aus der Atomruine zu bergen.
Doch die Stürme sind nur ein Problem.
Das größte Problem liegt in der menschenunwürdigen Behandlung der mit der Rettung betrauten Arbeiter.
Immer weniger Arbeiter wollen die enormen gesundheitlichen Risiken auf sich nehmen. Andere haben die Strahlungsgrenzen bereits überschritten und dürfen nicht mehr in Fukushima aufräumen, berichtet der Guardian.
Dokumente, die Tepco offengelegt hat, zeigen, dass zwischen März 2011 und Juli dieses Jahres 138 Mitarbeiter den Schwellenwert von 100 Millisievert (mSv) erreicht haben, bei weiteren 331 Arbeitern wurden zwischen 75 mSv und 100 mSv gemessen. Das bedeutet, dass sie nicht weiter im Werk arbeiten dürfen. Diejenigen, die kurz vor dem Schwellwert standen, wurden auf Kurzurlaub geschickt, um die Arbeit zu einem späteren Zeitpunkt fortsetzen zu können. Der Plan ging nicht auf: Viele Zwangsurlauber sind nicht an den Ort des Grauens zurückgekehrt und haben sich Arbeit in der Nähe ihrer Familie gesucht.
Schon vorher gab Tepco zu, dass bei 1.973 Arbeitern, einschließlich der von Auftragnehmer und Subunternehmer beschäftigten, die Schilddrüse Strahlendosen von mehr als 100 mSv ausgesetzt war. Ab dieser Ebene sprechen die Ärzte von einem erhöhten Krebsrisiko.
Auch den Menschen, die zuvor in der Sperrzone um Fukushima gewohnt haben, geht es schlecht. „Sie sind durch den Tsunami und die Reaktor-Explosionen traumatisiert und haben keine Ahnung, wie viel Strahlung sie abbekommen haben“, so Jun Shigemura, Dozent für Psychiatrie am National Defence Medical College. 70 Prozent der Arbeitnehmer von Tepco mussten ihre Häuser verlassen und arbeiten hier jetzt alleine, weil die Familie weggezogen ist, oder sie leben zusammen in provisorischen Unterkünften in der Nähe der Anlage. Die Ärzte konnten einen Anstieg von Depressionen und Alkoholabhängigkeit unter den Betroffenen feststellen. Immer wieder kommt es in den Notunterkünften zu Auseinandersetzungen zwischen Alkoholisierten, berichtet der Guardian. Bis vor kurzem waren diese Unterkünfte menschenunwürdig: Es gab nur eine Toilette für alle - zur Benutzung mussten die Arbeiter nachts über einen Hof gehen.
Während der Arbeit, so berichten japanische Medien, müssten die Arbeiter vergleichsweise primitive Atemschutz-Masken tragen. Unter den Masken schwitzen die Arbeiter, laufend kollabieren Menschen und werden auf der Baustelle ohnmächtig.
Die Stilllegung des Kraftwerks wird voraussichtlich noch 40 Jahre dauern, aber die qualifizierten Arbeiter werden jetzt schon immer weniger. Dazu kommen noch Zwischenfälle, wie vor kurzem, als sechs Arbeiter mit kontaminierten Wasser in Berührung kamen. Ein Rohrsystem wurde fälschlicherweise umgesteckt (mehr hier).
Die Aufräumarbeiten kommen jetzt in das gefährlichste Stadium seit dem Tsunami 2011. Da überrascht die schonungslose Ansage des Leiters der japanischen Atomaufsichtsbehörde, Shunichi Tanaka: „Menschen machen in der Regel keine dummen Flüchtigkeitsfehler, solange sie motiviert sind und in einer angenehmen Umgebung arbeiten. Die hier vorliegenden mangelhaften Bedingungen können wohl in Bezug mit den jüngsten Problemen gesehen werden.“
Der sinkenden Moral versuchte jetzt der japanische Ministerpräsident Shinzo Abe mit einem eindringenden Appell entgegenwirken, als er in Fukushima im Schutzanzug zu den Arbeitern sprach: „Die Zukunft Japans liegt auf Ihren Schultern. Ich zähle auf sie.“ Die Worte galten allen 6.000 verbliebenden Arbeitern, die an vorderster Front kämpfen: Technikern, Ingenieuren, Lkw-Fahrern.
Tausende Menschen nahmen die gefährliche Arbeit an, weil sie mit einem guten Gehalt gerechnet haben. Doch nach Abzug der Unterkunft gehen die Arbeiter nur mit ein paar tausend Yen jeden Tag nach Hause (1000 Yen entsprechen rund 7,50 Euro). Die schlechte Bezahlung ist auch ein Grund dafür, warum viele Arbeiter sich lieber nach einer ähnlich bezahlten Tätigkeit ohne Strahlenbelastung umsehen.
Dadurch wird eine Spirale in Gang gesetzt: Der deutsche Physiker Sebastian Pflugbeil berichtet, dass die Arbeiter mittlerweile aus Obdachlosen und hoffnungslos verschuldeten Japanern rekrutiert werden (hier).
Das Versprechen von Abe, die Olympischen Spiele im Jahr 2020 werden nicht von den Folgen der Katastrophe beeinflusst werden, ist jedoch nicht nur wegen des drohenden Arbeitskräfte-Mangels in Gefahr: Unabhängige Messungen haben hohe Radioaktivität in Tokio gemessen. Noch hält die olympische Industrie still (hier).
Der japanische Steuerzahler muss für die Rettung mindestens 38 Milliarden Euro aufbringen, hat der Japanische Rechnungshof ausgerechnet (hier).
Die Finanzierung bringt den Banken fette Zinsen und der internationalen Atommüll-Industrie einen langfristigen, lukrativen Auftrag.
Der Arbeiter, auf denen tatsächlich die ganze Last und das ganze Risiko liegen, werden behandelt wie minderwertige Wesen.
Die humanitäre Katastrophe ist auch eine humanitäre Schande.
Und die ganze Welt schaut weg.