Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Die Verfassungsmäßigkeit der Anti-Terror-Datei (ATD) - erstmals eingerichtet durch die Große Koalition im Jahr 2007 - wurde vom BfVG weitgehend bestätigt. Steckt hinter der Motivation des Gesetzgebers eine „tatsächliche unmittelbare Bedrohung“ oder die Vorstellung einer „unbekannten Bedrohungslage“?
Oliver Lepsius: Es geht um die Zusammenfügung von Informationen, die von unterschiedlichen Behörden unter unterschiedlichen Voraussetzungen erhoben worden sind. Die Polizeibehörden können nur ermitteln, wenn eine Gefahr besteht. Eine Gefahr setzt tatsächliche Anknüpfungspunkte voraus. Geheimdienste sammeln sicherheitspolitisch relevante Informationen. Sie gehen auch allgemeinen Verdachtslagen nach, beispielsweise durch verdeckte Ermittler. Die Befugnisse und die Aufgaben der Behörden decken also nicht dieselben Bereiche ab.
Der Gesetzgeber berücksichtigt im Rahmen der ATD sowohl die Informationen über „tatsächliche unmittelbare Bedrohungen“ im Rahmen der Polizeiaufgaben, als auch die „unbekannte Bedrohungslage“ in Bezug auf die Arbeit der Geheimdienste. Erkenntnisse aus beiden Bereichen werden gebündelt. Diese Sammlung gemeinsamer terrorrelevanter Informationen soll der Polizei und den Nachrichtendiensten zur Verfügung stehen.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Aber im Rahmen des Polizeiaufgaben-Gesetzes (PAG) der einzelnen Landesbehörden wird die „Bestimmtheit der Gefahr“ vorausgesetzt. Es muss ein konkreter Gefahrenverdacht vorliegen bevor die Polizei handeln darf.
Oliver Lepsius: Das ist ein wichtiger Punkt, denn unter Umständen könnte zu spät gehandelt werden. Mit welchen Mitteln kann dann in Erfahrung gebracht werden, ob wirklich eine Terrorgefahr etwa von Neonazi-Zellen droht? Deshalb kommen beispielsweise verdeckte Ermittler in Milieus zum Einsatz, die suspekt erscheinen.
An diesem Punkt kommen die Geheimdienste ins Spiel, um Infos zu sammeln. Auf dieser Basis kann dann die Polizei präventiv oder repressiv (Strafverfolgung) vorgehen. In einem derartigen Fall sind die Polizeibehörden auf die Erkenntnisse der Geheimdienste angewiesen und umgekehrt. Die gegenseitige Nutzung der Daten ist vom Gesetz aber nur in dringenden Ausnahmefällen vorgesehen worden.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Wie ist dann der NSU-Skandal, aus dieser Sicht zu bewerten?
Oliver Lepsius: Die Geheimdienste haben der Polizei ihre Erkenntnisse nicht mitgeteilt. Das hat einerseits mit der föderativen Behördenstruktur zu tun. Die Geheimdienste haben andererseits ein Interesse an Sonderwissen, das anderen nicht zur Verfügung steht. Dieses Sonderwissen erhalten sie hauptsächlich durch ihre verdeckten Ermittler. Die Geheimdienste sorgen sich, dass bei der Herausgabe von geheimen Informationen ihre Ermittler aufzufliegen drohen.
Denn dann könnten die Betroffenen Rückschlüsse auf die Informanten ziehen. Nach der ATD sind die Geheimdienste nunmehr verpflichtet, alle terrorrelevanten Erkenntnisse in die Verbunddatei einfließen zu lassen. Ihr Sonderwissen in der Terrorismusbekämpfung wird damit aufgehoben. Geheimwissen wird zu kontrolliertem und abrufbarem Wissen des Staates. Die Geheimdienste werden ein bisschen aus der „geheimen Ecke“ geholt. Aber die besten Informationen nützen natürlich nichts, wenn die Ermittler nicht nach ihnen suchen, weil sie sich in einer falschen Bedrohungslage (organisierte Kriminalität) verrannt haben.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Steht im Fokus der ATD eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe - Beispiel Rasterfahndung gegen muslimische Studenten an Hochschulen - oder geht es um die Erfassung und Beobachtung von einzelnen Personen?
Oliver Lepsius: Man denkt natürlich auch an Gruppen, die in den vergangenen Jahren für terroristische Aktivitäten bekannt geworden sind. Das sind zum einen der islamistische Terror und zum anderen Neo-Nazis. Doch darauf ist die ATD nicht im speziellen entwickelt worden. Allerdings gibt es gruppenspezifische Merkmale, die bei den Grunddaten gespeichert werden. Dazu zählt auch die Religionszugehörigkeit.
Das kann sich bei Muslimen auswirken. Doch das hängt letztlich von der Bedrohungslage ab. Denn je nach Bedrohungslage werden bestimmte Milieus einer stärkeren Datenerfassung ausgesetzt, als andere Milieus. Also Männer sind wahrscheinlich eher erfasst als Frauen; Über-30-Jährige wahrscheinlicher als Unter-30-Jährige; Muslime eher als Nicht-Muslime. Da brauchen wir uns nichts vor machen. Für die Speicherung müssen aber zusätzliche, individuelle Daten hinzukommen; die abstrakte Gruppenzugehörigkeit reicht nicht. Das ersehen sie schon daraus, dass letztlich „nur“ rund 15.000 Personen erfasst sind.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Sind das die einzigen Merkmale?
Oliver Lepsius: Es werden beispielsweise auch bestimmte Fähigkeiten technischer Art oder Verkehrskreise erfasst. Kameradschaften können beispielsweise Dachorganisationen für neo-nazistische Umtriebe seien. Oder auch Moscheevereine, die als Dachorganisation für islamistische Umtriebe missbraucht werden. Aber dem Gesetzgeber kann man keine Stigmatisierung bestimmter Bevölkerungskreise vorwerfen. Zumindest ich kann das dem Gesetz nicht entnehmen.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Verhindert das Trennungsgebot zwischen Polizei und Geheimdiensten die „Terrorismusbekämpfung“?
Oliver Lepsius: Das Trennungsgebot ist kein offizieller Rechtsgrundsatz, sondern ein Prinzip. Von diesem Prinzip sind wir aus historischen Gründen überzeugt. Denn im Nationalsozialismus hatte es eine Gleichschaltung und Zentralisierung der Sicherheitsorgane gegeben. Dort fand eine Fusion von Polizei und Geheimdiensten statt.
Heute kommt dem Trennungsgebot der Föderalismus zu Hilfe. Denn Polizei zählt weitgehend zur Landeskompetenz. Geheimdienste können sowohl der Bund als auch die Länder unterhalten. Der Föderalismus sorgt dafür, dass eine organisatorische Trennung zwischen den Landespolizeibehörden und den Geheimdiensten des Bundes gewahrt bleibt.
Es ist nicht ganz von der Hand zu weisen, dass das Trennungsangebot in Bezug auf den Informationsaustausch von Geheimdiensten und Polizei die Terrorismusbekämpfung erschwert hat. Andererseits darf das praktische Problem der Ermittlung und des Austausches von Erkenntnissen zwischen den Behörden nicht zu einer organisatorischen Verschmelzung zwischen Geheimdiensten und Polizei über ihre Datensätze führen.
In diesem Sinne ist die ATD ein Kompromiss, wie man die Selbstständigkeit der Geheimdienste und der Polizeibehörden und ihren Aufgabenzuschnitt wahren und gleichzeitig die Defizite des Informationsaustausches bei der Terrorismusbekämpfung verhindern kann. Die ATD ist ein Instrument, damit das Trennungsgebot aufrechterhalten werden kann. Das Bundesverfassungsgericht hat dem jetzt ein „informationelles Trennungsgebot“ an die Seite gestellt.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Es herrscht die Angst vor der Herausbildung eines „geheimpolizeilichen“ Sicherheits-Apparats...
Oliver Lepsius: Wir hoffen, dass es dazu nicht kommt. In der rechtspolitischen Diskussion im Bundestag gibt es keine Mehrheit dafür. Aber ihre Frage hat einen wahren Kern. Das BKA hat einige Kompetenzen zu Vorfeldmaßnahmen erhalten. Das sind präventive Maßnahmen, die der Gefahr noch voraus liegen.
Im Bereich der Strafverfolgung haben wir einige neue Straftatbestände im Strafgesetzbuch, die die Strafbarkeit in das Vorfeld verlegen (§§ 129a, 129b StGB), wo also schon die Unterstützung eines Planes kriminalisiert wird. Das sind heikle Vorschriften, weil der Tatbeitrag nicht in einer direkten Handlung bestehen muss.
Es gibt eine gewisse Verschleifung, die durch eine Vorverlagerung der Kriminalität und der Gefahrenprävention durch Vorfeldmaßnahmen hervorgerufen wird. Das sind Bereiche, in denen Polizeibehörden gezwungen werden, wie Nachrichtendienste im Vagen zu agieren obwohl rechtlich es um die Prävention von Straftaten geht.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Muss der Bürger Grundrechtseingriffe fürchten, gegen die er keine subjektiven Abwehrrechte mehr vorbringen kann?
Oliver Lepsius: Bei Grundrechtseingriffen hat der Bürger ein Abwehrrecht. Jede Datenerhebung, Datenübermittlung und jede Datenauswertung ist für sich genommen ein eigener Grundrechtseingriff, nämlich in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung des Betroffenen.
Dagegen kann der Bürger beispielsweise durch Auskunfts- und Löschungsansprüche vorgehen, auch nach dem ATD-Gesetz. Das Problem ist aber weitergehend. Die Bürger wissen nämlich oft gar nicht, dass in ihr Recht auf informationelle Selbstbestimmung eingegriffen wurde. Sie bekommen nicht mit, dass Geheimdienste Informationen über sie sammeln. Hier ist es schwierig, die Rechte des Bürgers zu wahren.
Es kommt noch hinzu, dass auch das Umfeld der Person erfasst wird. Es werden also unbeteiligte Dritte miterfasst. Auch das erzeugt ein Rechtsschutzproblem. Hier kann an die Stelle des subjektiven Rechtsschutzes (der Bürger wehrt sich eigenständig) der objektive Rechtsschutz eingreifen. Dabei können Richter, Parlamente und Datenschutzbeauftragte die Kontrolle der datenschutzrechtlichen Maßnahmen stellvertretend für die Bürger übernehmen. Auch dazu enthält das ATD-Gesetz Vorkehrungen, wie subjektiver Rechtsschutz durch objektive Kontrolle kompensiert werden kann.
Oliver Lepsius lehrt seit 2002 öffentliches Recht und allgemeine und vergleichende Staatslehre an der Uni Bayreuth. Er ist durch seine schonungslose Abrechnung mit den Plagiaten von Karl Theodor zu Guttenberg bekanntgeworden.