„Person und Gewissen. Studien zu Voraussetzungen, Notwendigkeit und Erfordernissen heutiger Gewissensbildung“ – so ist der Titel der Dissertation, mit der Annette Schavan 1980 ihren Doktortitel an der Heinrich-Heine-Universität erworben hat, nach damaliger Einschätzung von Prüfern und Gutachtern ein „opus admodum laudabile“, also ein ausgezeichnetes Werk.
Dieses Lob hat 32 Jahre gehalten, bis ein anonymer Wissenschafts-Kontrolleur der Bildungsministerin auf die Schliche kam. Akribisch untersucht der Experte auf Schavanplag die intellektuelle Leistung von Schavan, und kommt mit der Nüchternheit eines Meteorologen zu einem vernichtenden Ergebnis:
„Insgesamt gibt es 97 Seiten im Haupttext der Dissertation von S. 11 bis 335, auf denen Übernahmen aus 45 Quellen nicht oder nicht ausreichend kenntlich gemacht werden. Bei 63 von 130 einzelnen Fragmenten handelt es sich um Verschleierungen, d.h. die (wirkliche) Quelle der Ausführungen wird – im Gegensatz zu Bauernopfern – auch im Umfeld der Übernahme nicht genannt. Bedeutendste Plagiatsquelle ist die Habilitationsschrift des polnischen Franziskaners Antoni Jozafat Nowak mit 21 Fragmenten.
Als Muster lässt sich erkennen, dass die Verfasserin oft vorgibt, Primärquellen zu rezipieren, während sie tatsächlich mit leichten Abwandlungen aus der Sekundärliteratur abschreibt. In vielen Fällen werden dabei auch Fehler bei Zitaten oder Literaturangaben mit übernommen bzw. – seltener – korrekte Literaturangaben fehlerhaft übertragen.“
Die Universität Düsseldorf hat am Dienstag in überraschender Einhelligkeit beschlossen, den Erkenntnissen nachzugehen. Sie teilt mit: „Der Fakultätsrat hat alle Sachverhalte der Vorprüfung ausführlich diskutiert und heute in geheimer Abstimmung mit 14 JA-Stimmen und einer Enthaltung entschieden, dass das Hauptverfahren zu eröffnen ist.“
Schavans Methode des Abschreibens bestand darin, dass sie wichtige Bücher von C.G. Jung, Sigmund Freud und Martin Buber nicht selbst gelesen hat, sondern Urteile aus der Sekundärliteratur als ihre eigenen Schlussfolgerungen ausgibt.
Zum Verhängnis wurde der CDU-Politikerin, dass sie auch die Fehler abgeschrieben hat. So kann der Plagiats-Wächter erkennen, dass es nicht Schavans eigene Gedanken sind, sondern eine „vorgetäuschte Rezeption“ der Originale ist.
Eigene Gedanken sind aber das Entscheidende an einer wissenschaftlichen Arbeit. Umso peinlicher, dass selbst das Fazit ihrer Forschung nicht von ihr selbst stammt, sondern mindestens an einer Stelle von Lutz Hupperschwiller stammt. Dessen Werk trägt den Titel: „Gewissen und Gewissensbildung in jugendkriminologischer Sicht“.
Die Vorgehensweise von Schavan wird von ihr vielleicht als Jugendsünde gesehen. Kriminell war sie sicher nicht. Wer jedoch beim Thema „Gewissen“ so locker mit dem gedanklichen Eigentum anderer umgeht, müsste sich, wenn er sein Gewissen im Lauf der Jahrzehnte gebildet hat, eigentlich fragen, ob er als Politiker eine Rolle spielen kann.
Schavan gibt sich – noch – trotzig, will natürlich nicht zurücktreten, im Gegenteil: Sie will wieder in den Deutschen Bundestag und bewirbt sich um ein Mandat.
Dummerweise fällt die Affäre in den Bundestags-Wahlkampf. Wenn die Bild-Zeitung („Wir sind Papst!“) erst einmal dahinterkommt, dass Schavan auch aus einem Buch von Joseph Ratzinger abgeschrieben hat, dann dürften die Verdienste der Ministerin (welche Verdienste eigentlich?) endgültig vergessen sein.
Was Angela Merkel aber gar nicht gebrauchen kann, ist, dass nun auch die CDU ihren Steinbrück hat. Daher ist es gut vorstellbar, dass die Kanzlerin die Notbremse zieht. Merkels Gewissen kennt nur eines: die Wiederwahl. Das Verfahren an der Universität wird sich über mehrere Monate hinziehen, Schavan kann, sollte ihr der Doktor-Titel abgesprochen werden, dagegen vor dem Bundesverwaltungsgericht Berufung einlegen.
An einer Stelle plagiiert Schavan zwei Freud-Experten: „Den lebenserhaltenden Trieben gegenüber stehen die Todestriebe [...]] sie versuchen, lebende Einheiten zu zerstören, Spannungen radikal auszugleichen und so das Lebewesen in den anorganischen Zustand zurückzuführen, der als der Zustand der absoluten Ruhe angesehen wird.“
In „Jenseits des Lustprinzips“ hatte Freud allerdings nicht an die moderne Medien-Wirklichkeit und die innere Leere nach einem Rücktritt gedacht.