Politik

Gundersen warnt vor Erdbeben: Atomkraft-Werke sind weltweit gefährdet

Lesezeit: 7 min
15.12.2013 01:20
Nuklear-Experte Arnold Gundersen hat keinen Zweifel: Die mehrfache Kernschmelze von Fukushima ist der schlimmste Industrie-Unfall, den die Menschheit je gesehen hat. Der Pazifik müsse gerettet werden, um eine Zerstörung des globalen Ökosystems zu verhindern. Doch die größte Gefahr sind Gundersen in der Tatsache, dass weltweit AKW des selben Typs betrieben werden. Diese seien alle gefährdet - doch die Atom-Lobby versucht, die Gefahren zu vertuschen.

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Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Zurzeit finden im Reaktor-Gebäude 4 von Fukushima die Bergungsarbeiten der Brenn-Elemente statt. Wie schätzen Sie die derzeitige Lage ein?

Arnie Gundersen: Insgesamt wurden 40 Brenn-Elemente geborgen. Ich denke. dass sie die einfachen Brenn-Elemente zuerst bergen. Sie picken sich sozusagen die Rosinen heraus. Sie fangen mit den einfachen an. Und sie hoffen, dass die öffentliche Aufmerksamkeit nachlässt, wenn sie zum schwierigen Teil gelangen.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Die wahre Herausforderung liegt nicht in der Bergung der unbenutzten Brenn-Elemente im Reaktor- Gebäude 4. Da dieser Reaktor bei der Katastrophe vom 11. März nicht in Betrieb war, gab es keine Kernschmelze. Anders sieht es in Gebäude 1 und 3 aus. Dort lag eine Kernschmelze vor, was die Bergung sehr viel schwieriger macht. Würden Sie zustimmen?

Arnie Gundersen: Absolut. Die Bergung der Brenn-Elemente aus Gebäude 4 ist am dringlichsten, denn die Brenn-Elemente sind unverbraucht und das Gebäude ist sehr instabil. Das ist eine gefährliche Kombination. Dennoch sind die Bergungsarbeiten an Gebäude 1 und 3 noch schwieriger. Das Erdbeben hat dort schwere Schäden verursacht. Die Dächer beider Gebäude sind eingefallen - und bei Gebäude 3 besonders schwerwiegend. Dabei wurden die Metallfassungen, in denen sich Brenn-Elemente befinden, vermutlich sehr stark beschädigt. Stellen Sie sich die Metallfassungen als eine Zigarettenschachtel und die Brenn-Elemente als Zigaretten vor. Wenn die Packung beschädigt ist und Sie versuchen eine Zigarette herauszuziehen, wird Sie dabei vielleicht zerbrechen.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Über den Zustand der Brenn-Elemente in Gebäude 3 wird bisher nur spekuliert. Warum gibt es keine genauen Erkenntnisse?

Arnie Gundersen: Die Strahlung dort ist so hoch, dass die Arbeiter bis heute nicht in der Lage sind, das Gebäude zu betreten, um den genauen Zustand der Brenn-Elemente festzustellen. In „Three Mile Island“ (Anm.: Kernschmelze im amerikanischen Reaktor „Three Mile Island“ im Jahr 1979) wussten wir durch Messungen nach einem Jahr genau, wo und in welchem Zustand sich das Kernmaterial befand. Drei Jahre nach dem Unfall von Fukushima sind wir noch nicht einmal ins Reaktorgebäude vorgedrungen. Und wir haben keine Ahnung wo das Kernmaterial ist. Sogar in Tschernobyl wussten wir früher, wo sich das Kernmaterial befand als in Fukushima. Was wahrscheinlich passiert ist: Das Kernmaterial ist durch den Reaktor geschmolzen und liegt auf dem Boden des Reaktorsicherheitsbehälters. Diese Behälter haben Lecks. Wasser dringt in die Behälter ein, berührt das Kernmaterial und fließt wieder heraus. Die Sicherheitsbehälter schirmen die Radioaktivität also nicht mehr ab.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Die Probleme mit dem kontaminierten Wasser sind nach wie vor außer Kontrolle. Täglich fließen 400 Tonnen verseuchtes Wasser in den Pazifik. Wie schätzen Sie diese Situation ein?

Arnie Gundersen: Dieses Problem ist seit April 2011 bekannt. Ich habe es bereits damals gesagt und stehe nach wie vor zu dieser Aussage: Wir sind Zeuge der größten industriellen Katastrophe in der Geschichte der Menschheit. Meiner Meinung nach übertreffen die Folgen von Fukushima sogar Tschernobyl.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Wie könnte man das Problem mit dem kontaminierten Wasser unter Kontrolle bringen?

Es gibt zwei Wege das Problem zu lösen. Die Japaner versuchen zu verhindern, dass das Wasser in den Pazifik fließt. Ich habe vor zwei Jahren einen anderen Weg vorgeschlagen. Man müsste das Grundwasser daran hindern, überhaupt erst in den Reaktor einzudringen. Dazu müsste man eine Reihe von Brunnen in den Bergen errichten, die an das Gebiet des AKW-Geländes angrenzen. Dort könnte man Grundwasser abpumpen, wodurch sich der Grundwasserspiegel senken würde und das Wasser am Eindringen gehindert werden könnte. Denken Sie an eine Badewanne: Tepco versucht die Ränder der Badewanne zu erhöhen, um zu verhindern, dass das Wasser eindringt. Ich habe vorgeschlagen, den Wasserhahn auszumachen.

Als ich den Vorschlag 2011 machte, wäre es eine einfachere Schlacht gewesen. Nun ist das Grundwasser großflächig kontaminiert. Tepcos Verspätung hat das Problem viel schlimmer gemacht. Und Tepco hat die Sache aus zwei Gründen verzögert: Erstens, sind sie nicht kompetent genug. Und zweitens, hatten sie nicht genug Geld. Die japanische Regierung sagte zu Tepco, sie müssten das Problem mit ihren eigenen finanziellen Ressourcen lösen. Sie hatten aber nie genug Geld, um die Probleme richtig anzugehen. Anstatt zu agieren, war Tepco also immer gezwungen zu reagieren.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Tepco ist eine Betreiberfirma. Sie scheint jedoch komplett überfordert mit der Handhabung der Folgen eines GAUs zu sein. Sie verfügen nicht über das nötige Wissen, die Erfahrung und die Technologie, um die Probleme zu lösen. Hinzu kommt, dass sie internationale Hilfe ablehnen. Was könnten die Gründe dafür sein?

Arnie Gundersen: Ich möchte das am Beispiel von „Three Mile Island“ verdeutlichen: Die Betreiberfirma damals war GPU (General Public Utilities). Aber nach dem GAU haben sie die Bergungsarbeiten an Bechtel übergeben, weil sie sich eingestanden haben, dass sie nicht in der Lage waren, es richtig zu machen. Sie haben das verstanden und professionelle Hilfe ersucht. Was Fukushima betrifft: Wir wurden von drei amerikanischen Firmen kontaktiert und alle sagen dasselbe: Sie sind mit der nötigen Technologie und Erfahrung nach Japan gegangen und die Japaner hören einfach nicht auf sie.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Was denken Sie könnte der Grund dafür sein?

Arnie Gundersen: Es gibt viele Gründe dafür. Zwei davon sind Nationalismus und Korruption. Die japanischen Firmen wollen den Auftrag für die Aufräumarbeiten selbst an Land ziehen. Es geht ums Geld.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Der ehemalige Tepco-Ingenieur Toshio Kimura machte eine erstaunliche Aussage (mehr hier). Er sagte, es gab schon vor vielen Jahren Zweifel an der Konstruktion der Anlage und ob sie einem Erdbeben standhalten würde. Seiner Meinung nach fiel das Kühlsystem bereits nach dem Erdbeben aus und die Kernschmelze trat vor dem Eintreffen des Tsunami ein. Was halten Sie von der Aussage von Kimura?

Arnie Gundersen: Ich habe davon gehört. Ich denke Gebäude 1 hatte eine Kernschmelze direkt nach dem Erdbeben und es gibt viel Datenmaterial, dass diese Hypothese bestätigt. Und Tepco ist auf diese Reaktortypen spezialisiert. Sie betreiben ein weiteres Atomkraftwerk mit derselben Konstruktionsweise wie Fukushima Daiichi. Und sie haben natürlich ein finanzielles Interesse daran, dass dieses Kraftwerk wieder ans Netz geht.

Aber es ist auch eine weltweite Sorge, denn dieser Reaktortyp ist weit verbreitet. Es gibt hier eine Lektion, die die Atom-Industrie nicht lernen will: Die seismischen Analysen, auf denen der Bau all dieser AKWs basiert, könnten falsch sein. Wenn die Kernschmelze in Gebäude 1 durch das Erdbeben und nicht durch den Tsunami  verursacht wurde, dann müssten all diese seismischen Analysen neu bewertet werden. Und ich denke nicht, dass das zurzeit geschieht. Denn niemand will zugeben, dass all diese AKWs potenziell gefährdet sind.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Tepco verschleiert diese Informationen aus finanziellen Gründen. Sie sind stark daran interessiert die anderen Kraftwerke wieder ans Netz zu bringen, um den eigenen Bankrott abzuwenden. Wie schätzen Sie die finanzielle Situation von Tepco ein?

Arnie Gundersen: Die japanischen Banken haben Tepco gerade erst Milliarden von Dollar geliehen, um den Bankrott abzuwenden. Was aber nun geschehen muss, ist dass die japanische Regierung Tepco von der Verantwortung von Fukushima entbindet. Die Regierung sollte die Anlage in Fukushima übernehmen und zusammen mit den Verpflichtungen, die damit verbunden sind, also die Aufräumarbeiten rund um das AKW und in der gesamten Präfektur Fukushima. Aber die japanische Regierung will genau das nicht tun. Sie braucht Tepco als Sündenbock. Das ist das fundamentale Problem. Die Regierung will verhindern, dass die Bürger realisieren, dass sie für 500 Milliarden US-Dollar an Folgekosten geradestehen müssen. Die Anlage kostet etwa 100 Milliarden und die Präfektur nochmals 400 Milliarden US-Dollar an Aufräumkosten. Und die Regierung versucht krampfhaft die anderen AKWs wieder ans Netz zu bringen. Wenn die Japaner also realisieren für welche Beträge sie alle als Steuerzahler haften, nicht nur die Aktienhalter von Tepco, dann wäre die Debatte wahrscheinlich eine andere.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Die japanische Regierung hat gerade ein Gesetz zu Staatsgeheimnissen verabschiedet, das für viel Furore gesorgt hat. Es ist so vage formuliert, dass japanische Journalisten, die über Fukushima berichten, befürchten, dafür inhaftiert zu werden. Wie schätzen Sie dieses Gesetz ein?

Arnie Gundersen: Das Staatsgeheimnis-Gesetz wurde mit der Ermutigung der Amerikaner verabschiedet. Die Amerikaner sagten, es würde die nukleare Sicherheit gewährleisten. Offiziell geht es um Fragen der Landesverteidigung. Dieser Begriff ist sehr dehnbar und ich denke es geht nicht nur um Verteidigungsfragen. Die nuklearen Probleme um Fukushima werden wohl auch als Staatsgeheimnis klassifiziert werden. Es ist ein beängstigendes Gesetz. Ich fürchte, dass ich auf Grundlage dieses Gesetzes inhaftiert werden könnte, wenn ich wieder nach Japan zurückkehre.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Wie oft waren Sie selbst in Japan?

Arnie Gundersen: Ich war im letzten Jahr zweimal in Japan, in diesem Jahr leider noch nicht. Ich habe im Februar 2012 selbst fünf verschiedene Proben an verschiedenen Orten rund um Tokio genommen. All diese Proben wären in den USA als Atommüll klassifiziert worden. Nach amerikanischen Standards wäre Tokio damals eine radioaktiv-kontaminierte Region gewesen.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Was denken Sie, wie lange die Menschen in der Präfektur Fukushima mit den Umweltfolgen der Katastrophe zu kämpfen haben?

Arnie Gundersen: Die Regierung ermutigt und zwingt die Menschen in jede Region, mit Ausnahme der hochradioaktiven, zurückzukehren. Ich fürchte, dass die Leute zu schnell zurückgehen. Diese Entscheidung basiert auf Messungen der IAEA (Internationale Atomenergie-Behörde), die fehlerhaft sind. Sie messen nur die Radioaktivität in der Luft und ignorieren die Verstrahlung der Böden und des Grundwassers. Zudem benutzt die IAEA Zahlen für die Gesamtpopulation und ignoriert, dass Frauen und Kinder viel empfindlicher auf Radioaktivität reagieren. Dadurch werden bewusst Opfer in Kauf genommen, um die Ordnung schnellst möglich wiederherzustellen und die Olympischen Spiele in Tokio nicht zu gefährden. Ich denke in die Region in einem Radius von 30-40 Kilometern um das AKW, sollte niemand zurückkehren. Diese Region sollte für einige Jahrhunderte zu einer „nationalen Opferzone“ erklärt werden. Sie müssen zugeben, dass dieses Land geopfert und aufgegeben wurde und dass die Leute aus der Region nicht nach Hause zurückkehren können. Aber das ist ein sehr heißes politisches Eisen, denn die Japaner haben einen starken Heimatbezug. Sie bleiben oft für Generationen an einem Ort.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Unterstützer der Atom-Industrie spielen den Ernst der Lage herunter und behaupten, dass bisher noch niemand durch die Verstrahlung zu Tode gekommen sei. Was sagen Sie dazu?

Arnie Gundersen: Es gibt mindestens zwei Arbeiter in Fukushima, die an den Folgen der Strahlung verstorben sind, darunter der Betriebsleiter des AKW. Tepco behauptet ihre Krebserkrankungen hätten keinen Bezug zum GAU und sie wären sowieso an Krebs verstorben. Ich glaube das nicht. Ich denke sie waren einer so starken Dosis ausgesetzt, dass sich der Krebs 1-2 Jahren rasant entwickelt hat. Es ist zudem anzunehmen, dass viele der Arbeiter auf dem Gelände durch die starke Strahlung an Krebs erkranken werden.

Zudem gibt es eine enorme Menge an Daten zur Kindersterblichkeit, die zurückgehalten werden. Die Ärzte-Gemeinschaft wird von der Abe-Regierung unter Druck gesetzt und veröffentlicht keine medizinischen Daten zu diesen Themen. Wir wurden von 6 japanischen Ärzten kontaktiert, die aufgefordert wurden ihre Patienten über die Ursachen ihrer Erkrankungen anzulügen. Sie sollten ihnen sagen, dass die Krankheiten nichts mit Radioaktivität zu tun hätten.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Es gibt Statistiken, die darauf hinweisen, dass es vermehrte Fälle von Schilddrüsen-Krebs in der Region gibt. Das tatsächliche Ausmaß zeigt sich jedoch vermutlich erst in 2-5 Jahren. Was halten Sie von diesen Hinweisen?

Arnie Gundersen: Die japanische Regierung belügt ihre Bürger. Es gab einen achtfachen Anstieg von Schilddrüsenkrebs über der statistischen Norm. Die Regierung sagt, dass könne nicht mit dem Unfall zusammenhängen, denn Schilddrüsenkrebs brauche eine lange Zeit, um aufzutreten. Aber das stimmt nicht. Man bezieht sich dabei auf Erkenntnisse aus Tschernobyl, wo es fünf Jahre dauerte, bis die Raten der Krebserkrankungen anstiegen. Aber das lag daran, dass dort fünf Jahre lang niemand Daten erhoben hat. Die Sowjet-Regierung hat diese Daten gezielt unterdrückt, um das Ausmaß der Katastrophe zu verschleiern. Und das passiert erneut: Wissenschaftler und Mediziner werden unter Druck gesetzt und bedroht, oder man entzieht ihnen die finanzielle Grundlage.

Arnold "Arnie" Gundersen wurde 1949 in New Jersey geboren. Er hat mehr als 40 Jahre Erfahrung im Bereich der Kern-Energie. Er erwarb seinen Master-Abschluss in Reaktortechnik am Rensselaer Polytechnic Institute (RPI). Von 1972 bis 1976 war er als Reaktortechniker in der Northeast Utilities Service Corporation tätig. Von 1979 bis 1990 arbeitete er für die Firma Nuclear Energy Services. Gundersen war als Sachverständiger für die Auswertung des Reaktorunglücks von "Three Mile Island" tätig. Er ist Mitbegründer von Fairewinds Energy Education.

Aktuelle Berichte zu Fukushima hier.


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