Anfang Juni dieses Jahres wandte sich ein ehemaliger privater NSA Dienstleister und ehemaliger CIA Mitarbeiter mit Namen Edward Snowden an die Presse, was nun als das brisanteste Leck in der Geschichte der NSA gilt. Die Washington Post und der britische Guardian veröffentlichten am 6. Juni die Informationen des Geheimdienst-Insiders. Zusätzlich zu seiner Zeugenaussage legte Snowden verschiedene Dokumente vor, darunter eine PowerPoint Präsentation über das Überwachungsprogramm ‚PRISM‘, die belegen, dass es eine geheime Zusammenarbeit zwischen den US Geheimdiensten und amerikanischen Technologie-Giganten wie Yahoo, Google, Facebook, Microsoft und Apple gibt. Nach Angabe von Snowden gewähren die Firmen der NSA Echtzeit-Zugang zu allen Nutzer und Verbindungs-Daten der kooperierenden Firmen. Dies ermöglicht der amerikanischen Regierung praktisch jede elektronische Kommunikation im In- und Ausland systematisch zu überwachen.
Die Aufdeckung des sich ausweitenden Überwachungsstaates in den USA kommt für die Skandal-geschüttelte Obama-Regierung zu einem denkbar ungünstigem Zeitpunkt. Im Mai meldeten sich Augenzeugen zu Wort, dass die Obama Regierung sich letzten September weigerte einen möglichen Rettungseinsatz für die diplomatische Niederlassung in Bengasi zu veranlassen. Dann wurde aufgedeckt, dass die Steuerbehörde IRS gezielt Regierungskritiker unter die Lupe genommen hat.
Schließlich musste das Justizministerium einräumen die Telefonleitungen von bestimmten Associated Press-Journalisten im Kongress abgehört zu haben. Die amerikanische Regierung und die beschuldigten Technologie-Firmen bemühen sich nun intensiv um Schadensbegrenzung. Der Präsident erachtete es für nötig den Amerikanern zu versichern, dass keineswegs die Telefonate gewöhnlicher Bürger abgehört werden. Google und Facebook wiesen dezidiert die Behauptung zurück, dass die Regierung direkten und unbegrenzten Zugang zu Nutzer-Daten hätte und betonten, dass jeden Einzelfall rechtlich prüfen bevor sie Nutzer-Daten weitergeben und dass die sowieso nur eine sehr geringe Anzahl von Personen betrifft und nicht ihr Klientel generell. Was ist also dran an diesem Skandal? Werden nun alle vermeintlich privaten Kommunikationen systematisch von der NSA überwacht, oder nicht?
Zunächst einmal ist es wichtig zu betonen, dass der Skandal in den USA sich spezifisch auf die möglicherweise illegale Inlandsüberwachung der amerikanischen Bevölkerung bezieht. Man muß daher die Aussagen der Regierung und der Firmen in diesem Licht sehen. Nur amerikanische Kommunikationen sind rechtlich geschützt. Was die Überwachung der Kommunikationen von Ausländern in Übersee durch die NSA und verbündete Geheimdienste anbelangt, gibt es keinen rechtlichen Schutz. Seit 1999 ist zum Beispiel die Existenz des weltweiten Abhörystems Echelon, welches alle Arten von elektronischen Kommunikationen und das Internet systematisch überwacht, weithin bekannt. Europäer und andere Nicht-Amerikaner außerhalb der USA, die die Dienstleistungen amerikanischer IT-Firmen nutzen sollten sich bewusst sein, dass die US-Firmen ganz legal ihre Daten an die US Regierung weitergeben dürfen. Es besteht ebenfalls der begründete Verdacht, dass amerikanischen Firmen wie Google auch mit anderen Regierungen kooperieren.
Für ein tieferes Verständnis des ‚PRISM‘-Skandals ist es nötig, den gesamten Kontext der Abhör-Debatte zu betrachten. Die PRISM Dokumente bringen eigentlich kaum neue Erkenntnisse, sondern bestätigen nur, was ehemalige Insider seit Jahren gesagt haben. Der systematische Ausbau des NSA-Inlands-Überwachungsapparats begann nach Aussage des ehemaligen leitenden NSA-Angestellten William Binney etwa sechs Monate vor den Anschlägen des 11. Septembers. Es gab ein internes NSA Entwicklungsprogramm für ein System der automatischen Überwachung inländischer Kommunikationen mit dem Namen ‚Thinthread‘, welches sich auf die Analyse von Verbindungsdaten beschränkt hätte und die Inhalte von Kommunikationen automatisch verschlüsselt hätte, so dass NSA nicht ohne Gerichtsbeschluss zu diesen Daten Zugang gehabt hätte.
Anstatt diese Richtung zu wählen, beschloss der damalige NSA Direktor General Michael Hayden ein sehr viel umfassenderes Überwachungssystem mit dem Namen ‚Trailblazer‘ extern entwickeln zu lassen. Da ‚Trailblazer‘ nicht auf absehbare Zeit verfügbar war und sich später als milliardenschwerer Fehlschlag entpuppte, setzte die NSA auf eine geheime Zusammenarbeit mit den größten Telekommunikationsfirmen AT&T, Verizon und Bell South um Kommunikationen sozusagen direkt an der Quelle abzufangen. Dieser Ansatz ist keineswegs neu. Bereits in den 1920er Jahren hatte die amerikanische Regierung eine geheime Zusammenarbeit mit Privatfirmen wie ITT bis die Firmen wegen juristischer Bedenken Ende der 1920er Jahre die Zusammenarbeit beendeten.
Der Forschungsarm des US Verteidigungsministeriums zuständig für die Entwicklung revolutionärer Technologien DARPA arbeitete nach 9/11 an einem Programm mit dem Namen ‚Total Information Awareness‘ (TIA), welches sämtliche Daten aus einer Vielzahl von verschiedenen Datenbanken nach bedeutungsvollen Verbindungen zu durchsuchen, um terroristische Aktivitäten zu entdecken bevor die Terroristen zur Tat schreiten können. DARPA vergibt Entwicklungsaufträge an Universitäten und Privatfirmen und hat dafür einen jährlichen Etat von drei Milliarden Dollar. TIA bestand aus einer Reihe von Unterprogrammen, die von verschiedenen Firmen entwickelt werden sollten. Obwohl das TIA Programm offiziell wegen Datenschutz-Bedenken 2003 beendet wurde, wurden dennoch Teile von TIA unter strenger Geheimhaltung weitergeführt. TIA sollte Datenbanken mit Hilfe von Profilen von typischen Terroristen durchforsten, die Terrorismus-Bedrohung von Individuen zu bewerten und sollte sogar in der Lage sein, Verhalten von Individuen vorherzusagen. Abgesehen von DARPA gibt es ebenfalls In-Q-Tel der CIA, welches Start-ups im High-Tech Bereich fördert. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wurden IT-Firmen wie Google, Facebook und Twitter gezielt von den US Geheimdiensten gefördert. Falls dies zutrifft, dann wäre eine geheime Zusammenarbeit von Google mit der NSA oder von Facebook mit der CIA keinesfalls überraschend.
Jedenfalls kam es im Dezember 2005 zum Abhörskandal als die New York Times berichtete, dass genannte Firmen der Regierung Echtzeit-Zugang zu Verbindungsdaten gewährten. Diese systematische Inlandsüberwachung war selbst durch den PATRIOT Act von 2001 nicht gedeckt, der die legalen Überwachungsmöglichkeiten für die Regierung sehr stark erweitert hat. Die damalige Bush-Regierung hat Staatsgeheimnis-Privileg benutzt, um jegliches Beweismaterial aus den Gerichten herauszuhalten und war damit relativ erfolgreich. Zahlreiche Klagen gegen die Regierung und die kollaborierenden Firmen wurden damit einfach abgeschmettert. 2008 verabschiedete der Kongress einen Zusatz zum Foreign Intelligence Surveillance Act, der Firmen die Daten an die Regierung weitergegeben haben rechtliche Immunität gewährt. Im Endeffekt wurde die illegale Zusammenarbeit von Privatfirmen und Regierungs-Spionen im Nachhinein legalisiert.
Es gab sicher große Hoffnungen im Jahr 2008, dass Obama dem ausufernden nationalen Sicherheitsapparat in seine Grenzen verweisen und die Tendenzen zum autoritären Staat zurückdrängen würde. Diese Hoffnungen haben sich nach über vier Jahren ganz klar zerschlagen. Nicht nur hat Obama den PATRIOT Act weiter verlängert und im National Defense Authorization Act eine Klausel eingefügt, die es dem US Militär ermöglicht auch innerhalb der USA Terror-Verdächtige auf unbestimmte Zeit in Sicherheitsverwahrung zu nehmen, sondern es gab einen weiteren Ausbau der Inlandsspionage, eine schleichende Militarisierung des Heimatschutzministeriums und die Einrichtung des Cyber-Kommandos innerhalb der NSA, was nach Ansicht des NSA Experten James Bamford die NSA und deren Leiter zum mächtigsten Geheimdienst der Welt macht. Seit 9/11 hat das Heimatschutzministerium überall in den USA sogenannte „Fusionszentralen“ eingerichtet, wo alle verfügbaren Informationen der Strafverfolgungsbehörden und Geheimdienste verschmelzen sollen, als ein Frühwarnsystem zur Verhinderung von Terroranschlägen in den USA.
Die NSA expandiert seit Jahren ebenfalls ganz massiv, auch im Bereich der Inlandsüberwachung. Binney behauptet, dass die NSA zwischen 10 und 20 in den USA verstreute Zentralen hat, die Daten direkt von Telekommunikationsfirmen abzapfen. Im Herbst soll ein gigantisches zwei Milliarden teures Datenlager in Bluffdale in Utah fertiggestellt werden, was es der NSA ermöglichen wird noch mehr Daten zu sammeln und auszuwerten. Schon jetzt ist die NSA in der Lage geschätzte 1,5 Milliarden Kommunikationen pro Tag zu überwachen, welche dann von der NSA auf unbestimmte Zeit für mögliche spätere Nutzung gespeichert werden können. Nach Angabe von Binney hat die NSA derzeit keinerlei Filter, um die Daten zu sortieren. Es gibt auch nicht mal Ansatzweise genügend Analytiker um die gespeicherten Daten auszuwerten. Allerdings ist die NSA in der Lage sämtliche über Jahre gespeicherte Daten von Personen abzurufen, die für die Behörde von Interesse sind. Das schließt Emails, Telefonate, Kreditkarten-Transaktionen und Google-Suchanfragen ein. Aus Sicht der NSA ist die Speicherung dieser Daten verfassungsgemäß und wird nicht als ein Abhören oder Abfangen von Kommunikationen angesehen, da diese Kommunikationen ja nicht generell von menschlichen Analytikern angesehen werden.
Das systematische Daten-Sammeln der Regierung scheint oberflächlich betrachtet nicht allzu problematisch zu sein, da die Regierung die Daten von Hunderten Millionen von Amerikanern und Ausländern ja nicht generell verwendet. Diese Sichtweise stellt sich aber schnell als falsch heraus. Sofern es keine effektiven Aufsichtsmechanismen gibt, die eine demokratische Kontrolle der systematischen Überwachung der Bevölkerung ermöglichen – diese scheinen selbst nach Ansicht von Kongressmitgliedern derzeit nicht zu existieren – dann sind dem politischen Missbrauch und der Korruption Tür und Tor geöffnet.
Ein Bericht eines Untersuchungsausschusses des US Kongress, der die Arbeit der „Fusionszentralen“ untersucht hat und der im Oktober 2012 veröffentlicht wurde, hat eine geradezu niederschmetternde Kritik geübt. Nicht nur befasst sich nur ein winziger Bruchteil der Berichte der „Fusionszentralen“ mit Terrorismus – deren vermeintliche Hauptaufgabe – sondern es gab Hinweise auf routinemäßige Bürgerrechtsverletzungen durch die Zentralen. Die Qualität der Berichte war teilweise so schlecht, dass sie nicht außerhalb des Ministeriums zirkuliert werden konnten. Mit anderen Worten, die „Fusionszentralen“ sind eine Verschwendung von Steuergeldern, da sie praktisch nichts zur nationalen Sicherheit beitragen. Darüberhinaus sind die Fusionszentralen dazu übergegangen Internet-Foren, Chat Rooms, Facebook, Twitter usw. systematisch nach Schlüsselworten zu durchsuchen wie Cops, Police, Airport, Hacktivist oder Zombie, um vermeintliche politische Extremisten und Terroristen zu finden. In einem weithin publizierten Fall wurde der ehemalige Marineinfanterist Brandon Raub wegen einem Facebook Kommentar über 9/11 gegen seinen Willen in eine psychiatrische Anstalt eingeliefert. Das Heimatschutzministerium beschäftigt ebenfalls Internet-Trolle, der Aufgabe es ist Leute mit regierungskritischen Ansichten in Internet Diskussions-Foren zu diskreditieren.
Das Bild, das sich im Bezug auf die Inlandsüberwachung in der USA abzeichnet, ist düster. In der Zukunft könnten Regierungskritiker leicht durch das systematische und automatische überwachen von Kommunikationen identifiziert werden. Die Namen dieser Personen könnten dann auf Beobachtungslisten gesetzt werden, so dass sie dann sehr viel intensiver überwacht werden, um sie dann einzuschüchtern und gesellschaftlich zu isolieren. Ganz besonders bedroht sind natürlich politische Aktivisten, Journalisten und Insider, die Amtsmissbrauch und Korruption in der Regierung aufdecken. Die Obama-Regierung führt einen regelrechten Krieg gegen Geheimnis-Verräter und nicht politisch sanktionierte Lecks. Nicht weniger als sechs ehemalige Insider wurden für die Aufdeckung von Regierungsmissbräuchen unter dem Spionagegesetz angeklagt und mit einer Maximalstrafe von 30 Jahren bedroht. Das bekannteste Beispiel ist natürlich Bradley Manning, welcher unter anderem hunderttausende von State Department Depeschen an WikiLeaks weitergegeben hat. Manning wurde lange jeglicher Rechtsbeistand verweigert und er wurde offenbar in Haft misshandelt. Julian Assange versteckt sich immer noch in der ecuadorianischen Botschaft in London, da er seine Auslieferung in die USA befürchtet. Auch Snowden muss davon ausgehen, dass er zum Hochverräter erklärt wird und dass die US Regierung an ihm ein Exempel statuieren wird.
In dem gegenwärtigen amerikanischen Überwachungsskandal geht es nicht nur um den Schutz der Bürgerrechte von Amerikanern, es geht vor allem um das Überleben der Demokratie in der westlichen Welt. Die Meinungsfreiheit, welche Grundlage jeglicher Demokratie ist, hört auf zu existieren, wenn Bürger Vergeltungsaktionen des Staates fürchten müssen, wenn sie die Regierung privat kritisieren. Auch wenn die Mehrheit von Amerikanern und Europäern immer noch in exhibitionistischer Weise nichts dabei findet, dass Emails und Internetaktivitäten nicht wirklich privat sind, könnte sich das bald ändern sobald die Zensur und Unterdrückung von bestimmten politischen Ansichten zunimmt und deutlich sichtbar wird. Es gibt schon jetzt Dank des Mutes und des selbstlosen Einsatzes für die Wahrheit über das Ausmaß staatlicher Überwachung von ehemaligen Insidern wie Binney und Snowden Zeichen der Hoffnung, dass die Geheimdienste in ihre Schranken verwiesen werden können.
Armin Krishnan ist Visiting Assistant Professor for Security Studies
Intelligence and National Security Studies Program an der Universität of Texas in El Paso. Sein Buch „Gezielte Tötung. Die Zukunft des Krieges“ ist im Berliner Verlag Matthes & Seitz erschienen.